Geleitwort Bundesratspräsident Bodo Ramelow zum Motto der Thüringer Präsidentschaft

Foto: Bodo Ramelow

© Bundesrat | Steffen Kugler

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 „Zusammen wachsen – zusammenwachsen“ dieses Motto hat der Freistaat Thüringen für die Bundesratspräsidentschaft 2021/22 gewählt. Es ist ein Aufruf zur gemeinsamen Zukunftsgestaltung und zugleich ein Aufruf an ein Land, welches 31 Jahre nach der Wiedervereinigung noch dabei ist, eine neue gesamtstaatliche Identität herauszubilden, also zusammenzuwachsen.  

Hinter der Bundesrepublik und ihren Bürgerinnen und Bürgern liegen schwere Monate. Die COVID19-Pandemie hat uns vor die größte Herausforderung gestellt, die unser Land in den letzten Jahrzehnten zu bewältigen hatte. Es wird Zeit und Ausdauer brauchen, die gesellschaftlichen und ökonomischen, aber auch sozialen Wunden, die zum Teil neu aufgebrochen sind, zu heilen. Gleichsam hat die Pandemie vor Augen geführt, wie Menschen – Krankenhauspersonal, Einzelhandelsbeschäftigte, aber auch nachbarschaftlich Engagierte - „zusammen wachsen“, ja über sich hinauswachsen können. Die Gewissheit, dass Solidarität Gesellschaften auch durch die schwersten Zeiten tragen kann, gibt Kraft für das Kommende. 

In einem Land, das nach vierzig Jahren der Teilung und Zweistaatlichkeit im Jahr 1990 zur Einheit fand, verweisen die zwei verschiedenen Lesarten „zusammen wachsen“ und „zusammenwachsen“ insbesondere auf den nach wie vor nicht abgeschlossenen Prozess dieser Einheit. Dabei geht es nicht nur um die Klassiker wie Lohngerechtigkeit und  Chancengleichheit bei der ökonomischen Entwicklung, sondern mehr denn je ist uns bewusst geworden, dass es auch um das emotionale Verhältnis geht, also mit welchem Blick das jeweils Andere, das scheinbar Fremde wahrgenommen und geschätzt wird. 

Um das emotionale Band zwischen den Menschen in Ost- und Westdeutschland zu stärken, bedarf es einer ehrlichen Kommunikation auf Augenhöhe.  Nur dann kann jeder und jede bestmöglich unterschiedliche Sichtweisen und Kompetenzen einbringen.  So können wir uns gemeinsam den großen Fragen unserer Gegenwart und Zukunft stellen, sie gemeinsam bewältigen. Auf diese Weise werden wir „zusammenwachsen“ und „zusammen wachsen“ und gedeihen. Nur, wenn es uns gelingt, auch genuin ostdeutsche Antworten auf diese Fragen zuzulassen und als bedenkenswerte Handlungsmöglichkeiten zu begreifen, können wir auf dem Weg in Richtung tatsächlicher Einheit weiter voranschreiten – eine Einheit, die alle mitnimmt und nicht die mentale West-Sieger und Ost-Verlierer-Geschichte fortschreibt, die nach 1990 vielerorts Raum griff.  

Wir leben in Zeiten, in denen manche ihr politisches Geschäft mit Populismus darauf ausrichten, die einen gegen die anderen aufzuwiegeln und unsere freiheitliche, vielfältige und solidarische Lebensweise anzugreifen. Hier stehen wir als Demokratinnen und Demokraten in der Pflicht, diejenigen Bruchlinien ehrlich innerhalb unseres Gemeinwesens zu benennen und ein echtes „Zusammenwachsen“ zu ermöglichen. Jung und Alt, Stadt und Land, länger hier lebend oder zugezogen und nicht zuletzt die sozioökomische Spannung zwischen „Oben“ und „Unten“ – all dies müssen nicht unversöhnliche Gegensätze sein oder bleiben, sondern sollten uns motivieren sie zusammenzuführen und Politik von ihnen aus neu zu denken. 

Das Zusammenwachsen in Deutschland ist vor allem auch die Aufgabe unserer Institutionen, nicht zuletzt des Bundesrats.  Die Rolle des Verfassungsorgans Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren soll sicherstellen, dass Ost, West, Nord und Süd zusammenfinden. Am Ende sind Beschlüsse des Bundesrats immer eine ungeheure Integrationsleistung der unterschiedlichen Standpunkte  und Interessen in unserem Land.  Manchmal dauert das länger, aber das Ergebnis ist umso inklusiver und nachhaltiger. Die Entschleunigung durch das geordnete und transparente Bundesratsverfahren kommt Qualität und Verbindlichkeit zu gute. Und da macht mir der permanente Krisenmodus der letzten Jahre durchaus Sorge. Dieser hat das föderale Gesetzgebungsverfahren einem gehörigen Stresstest unterzogen,  weil er suggeriert,  jetzt müsse es besonders schnell gehen. Dabei ist die Antwort auf Krise oft gerade nicht die Schnelligkeit sondern die Gründlichkeit. Und so erschweren die zunehmenden Fristverkürzungsbitten bei eingebrachten Gesetzesvorlagen die Beteiligung der Fachausschüsse des Bundesrats erheblich.

Umgekehrt müssen wir natürlich auch darüber diskutieren, wie wir die Verfahrensabläufe des Bundesrats gerade für Phasen der Krisenbewältigung effizienter und digitaler gestalten können. Jedenfalls hat COVID19 noch einmal grundsätzliche Fragen an den Föderalismus aufgeworfen, die wir gemeinsam beantworten müssen. Für welche Entscheidungen wäre ein koordiniertes,  konzentriertes und konzertiertes Vorgehen der Länderkammer möglicherweise hilfreicher und legitimer gewesen als das Format der Ministerpräsidentenkonferenz? Was können wir für künftige Krisensituationen als Bundesrat aus den letzten anderthalb Jahren lernen? 

Keine politische Institution bildet die mittlerweile zur Normalität gewordene Buntheit unserer Parteien- und Politiklandschaft so getreu ab wie der Bundesrat. Hier versagt die einfache Schablone: hier Regierung, da Opposition. Es wird um Mehrheiten gerungen, die politisch übergreifender sind. Ich weiß und bin davon überzeugt, dass wir als Vertreterinnen und Vertreter der Ost- und Westdeutschen auch in Zukunft kollegial und kompromissbereit um gute Lösungen ringen werden – manches Mal sicher kontrovers, aber immer auch in gegenseitigem Respekt vor den Bedürfnissen des jeweils Anderen.

Lassen Sie uns in diesem Geiste im neuen Jahr beweisen: Wir können und wir wollen „zusammen wachsen und damit zusammenwachsen“!

Bodo Ramelow
Bundesratspräsident

Stand 01.11.2021

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