Interview zum Amtsantritt Mehr Zusammenhalt statt Polarisierung – in Deutschland und Europa

Foto: Reiner Haseloff

© Bundesrat | Steffen Kugler

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Reiner Haseloff ist seit 1. November 2020 Präsident des Bundesrates. Im Interview spricht der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts über Ziele in seiner Amtszeit, seine ostdeutsche Biographie und erläutert, was die Kenia-Koalition in seinem Land mit dem Verhältnis von Bund und Ländern gemeinsam hat. Außerdem plädiert er für mehr Verständnis im Umgang mit Osteuropa.

Herr Präsident, was ging Ihnen nach Ihrer Wahl zum neuen Bundesratspräsidenten durch den Kopf?

Eine solche Situation ist nicht vorprogrammiert. In der ersten Hälfte meines Lebens – die ich in der DDR verbrachte – war es natürlich unvorstellbar, dass ich jemals Mitglied des Bundesrates oder gar Bundesratspräsident sein würde. Ich dachte daran zurück und auch an die 14 Jahre, die ich Mitglied im Bundesrat bin. In dieser Zeit habe ich mit vielen Kolleginnen und Kollegen eng und gut zusammengearbeitet. Mit ihrer Unterstützung gehe ich in das neue Amt. Ich freue mich auf diese Zeit.

Welche Pläne haben Sie?

Ob die friedliche Revolution in Ostdeutschland, die Wiedervereinigung oder jetzt die Pandemie - die Erfahrung zeigt mir: Die Zukunft ist immer offen und nicht vorhersehbar. Es gibt angenehme und unangenehme Überraschungen.

Foto: Reiner Haseloff im Präsidium des Plenarsaals

Als Präsident leitet Reiner Haseloff die Sitzungen des Bundesrates

© Bundesrat | Frank Bräuer

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Fest steht: Das nächste Jahr wird spannend. Wir müssen vieles anders machen, neue Konzepte entwickeln und überlegen, wie wir auf neuen Wegen miteinander kommunizieren. Ich werde mich vor allem dafür einsetzen, der Polarisierung in Politik und Gesellschaft entgegenzuwirken und unseren Zusammenhalt zu stärken. Ein weiteres Ziel ist für mich die Vollendung der Deutschen Einheit – nicht nur mental, sondern auch strukturell. Hier bleibt noch einiges zu tun.

Sie sind Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, das mitten in Deutschland liegt. Was zeichnet Ihr Bundesland aus?

Das sind mehrere Dinge: Zum einen die Geschichte - von den Ottonen über die Reformation bis zum Bauhaus - vieles, was Deutschland und seine Kultur prägt, hat seine Wurzeln in Sachsen-Anhalt. Hier kreuzen sich seit Jahrhunderten die großen europäischen Magistralen und Handelswege.

Foto: Ministerpräsident Reiner Haseloff präsentiert ein neues Schild für das Bauhausjubiläum 2019

In Sachsen-Anhalt wurden an vielen Orten und Institutionen Ideen der Moderne entwickelt

© dpa | Ronny Hartmann

Sachsen-Anhalt vereint auch sehr unterschiedliche landsmannschaftliche Traditionen. Das bezeugen schon die verschiedenen Dialekte. Im Süden hören Sie Sächsisch, im Norden Plattdeutsch. Wir sind pluralistisch aufgestellt, offen und aufnahmebereit für Neues – ein Vorteil in der heutigen Zeit! Ein weiteres Merkmal – viele vermuten es nicht: Sachsen-Anhalt ist ein wichtiger Industriestandort. Hier stehen heute modernste Industrieparks. Sie sind Ergebnis eines harten Strukturwandels nach der Wende.

Sachsen-Anhalt gehört zu Ostdeutschland – welche Rolle spielt diese Zuordnung heute noch?

In Ost- und Westdeutschland wurden zwei Generationen unterschiedlich sozialisiert. Es wird auch zwei Generationen dauern, bis die entstandenen Unterschiede nivelliert sind.

Foto: Reiner Haseloff und Winfried Kretschmann laufen nebeneinander

Reiner Haseloff führte im Sommer 2020 Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann durch seine Heimatstadt Wittenberg

© dpa | Hendrik Schmidt

Für die jungen Generationen spielt das keine Rolle mehr. Für meine Generation sieht das anders aus und es ist wichtig zu erzählen, warum man bestimmte Dinge anders sieht. Wir haben erfahren, dass nicht alles selbstverständlich ist und Stabilität nur gewährleistet ist, wenn man täglich dafür kämpft – Stichwort Demokratie. Wer sich mit den Erfahrungen der Ostdeutschen auseinandersetzt, versteht auch besser, wie Osteuropa tickt. Damit tut man sich im Westen Europas mitunter schwer. Viele Missverständnisse könnten vermieden werden mit dem Versuch, die analytischen Fähigkeiten der Ostdeutschen in gesellschaftliche und politische Bewertungsprozesse einzubeziehen.

Warum braucht es in der Europäischen Gemeinschaft eine besondere osteuropäische Perspektive?

Es geht um das Verständnis der besonderen Situation dieser Länder. Dieses fehlt häufig. Schauen Sie zum Beispiel auf die Transformationsprozesse in Polen, Ungarn und Tschechien. Sie waren viel mühsamer als in Ostdeutschland. Diese Länder hatten wesentlich schlechtere Ausgangssituationen, mussten vieles aus eigener Kraft erledigen und hatten nicht die Möglichkeiten, die wir hatten. Heute allein eine westeuropäische Perspektive einzunehmen, führt nicht zum Ziel. Man muss anerkennen: Europa ist ein Organismus mit zwei Lungenflügeln – wie es Papst Johannes Paul II. schon gesagt hat. Wenn nur einer beatmet wird, hat man ein Problem.

Schauen wir nochmal auf Deutschland. Seit der letzten Bundesratspräsidentschaft von Sachsen-Anhalt in den Jahren 2002 / 2003 gab es mehrere große Reformen der bundesstaatlichen Ordnung. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Foto: Reiner Haseloff in der Länderbank

Reiner Haseloff nach seiner Wahl mit dem Staffelstab der Bundesratspräsidentschaft

© dpa | Wolfgang Krumm

Positiv! Die Reformen waren notwendig im Spannungsfeld zwischen Bund und Ländern. Für Ostdeutschland bedeuten sie den Abschied von der Rolle eines Bittstellers, der auf Transfers angewiesen ist. Mit dem neuen Bund-Länder-Finanzausgleich wurde ein System etabliert, das auf klaren mathematischen Faktoren beruht. Politische Mehrheiten und Ost-West-Diskussionen spielen hier keine Rolle mehr. Auch zu Gunsten strukturschwacher Länder im Westen übrigens. Natürlich kommt es trotzdem immer wieder zu Herausforderungen in unseren föderalen Strukturen. Doch auch hier haben wir Handlungsfähigkeit bewiesen, wie etwa die Pläne zum Kohleausstieg zeigen.

Seit einigen Jahren scheinen die Länder im Bundesrat dem Bund gegenüber recht wohlgesonnen zu sein. Trügt der Schein?

Zwei Punkte kommen hier zum Tragen. Die Zusammensetzung der Parlamente in Bund und Ländern ist heterogener geworden. Der Abstimmungsbedarf hat entsprechend zugenommen. Vieles muss heute daher schon im Vorfeld – vor Beginn des eigentlichen Gesetzgebungsprozesses – abgestimmt werden, auch um Ressourcen zu schonen und um überhaupt zu einem Ergebnis zu kommen. Sachsen-Anhalt ist das erste Land mit einer Kenia-Koalition – wir haben mit komplexen Abstimmungsprozessen also Erfahrung. Nicht viel anders ist es im Bund. Auch hier stellt sich die Situation wie in einer Kenia-Koalition dar: Eine schwarz-rote Mehrheit im Bundestag steht einem Bundesrat gegenüber, in dem Länder mit grüner Regierungsbeteiligung in der Mehrheit sind. Der politische Abstimmungsprozess muss unter diesen Bedingungen – auch gesellschaftlich - viel breiter angelegt sein als das damals bei den traditionellen Kampflinien schwarz-gelb versus rot-grün der Fall war.

Wie gelingt es in Ihrem Land, recht unterschiedliche Koalitionäre zusammenzuhalten?

Es ist ganz klar – wenn man den extremistischen Flügeln im Parlament keine Steuerungsmöglichkeit in die Hand geben möchte, müssen sich die Parteien in der Mitte zusammenraufen.

Foto: Reiner Haseloff vor einem Laptop

Kabinettsitzung in Sachsen-Anhalt

© dpa | Hendrik Schmidt

Dabei sind die Schnittmengen oft größer als man denkt – das zeigen die aktuellen Herausforderungen, wie die Corona-Krise oder das Thema Migration. Fährt man eher im ruhigen Fahrwasser, pflegt man mehr die Differenzen. Diese werden nachrangig, wenn es um existenzielle Dinge und das große Ganze geht.



Stand 01.11.2020

Bundesratspräsident Haseloff nach seiner Wahl am 9. Oktober 2020:

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