Antrittsrede Bundesratspräsident Dietmar Woidke: Wir brauchen mehr Miteinander

- Es gilt das gesprochene Wort -

Meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

fast auf den Tag genau vor 30 Jahren, am 10. November 1989, eröffnete der neue Bundesratspräsident Walter Momper die Bundesratssitzung mit den Worten: "Gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste auf der Welt." Es war die Nacht, in der die Mauer ihren trennenden Charakter verlor.

Wohl jeder erinnert sich sehr genau an jene Nacht vom 9. November 1989, in der die Menschen der DDR die Öffnung der Grenzen erzwangen, erinnert sich, was er ganz persönlich erlebt hat. Viele Tränen sind geflossen. Eine Nacht der Umarmungen, und "Wahnsinn" wurde das Wort dieser Nacht.

Ich selbst ging mit zig tausenden anderen über die Bornholmer Straße glücklich und überwältigt in den Westen. Willkommen im Wedding. Nach zwei Stunden war ich wieder zurück.

Wenn wir auch morgen wieder des 9. November gedenken, erinnern wir uns auch der zehntausenden mutigen Menschen, die in Leipzig und andernorts im September und Oktober 1989 für Freiheit und Demokratie demonstrierten. Und die sich nicht sicher sein konnten, dass sie abends wieder gesund zu Hause sein würden. Diesen mutigen Männern und Frauen gebührt noch heute unser Dank!

Schon in der Bundesratssitzung vor 30 Jahren waren unsere damaligen Kolleginnen und Kollegen überzeugt davon, dass eine große Aufbauleistung bevorstehen würde. Heute, 30 Jahre später, können wir sagen: Es ist uns wirklich viel gelungen. Nicht nur hier im Bundesrat, überall im Land ist vieles "zusammen gewachsen, was zusammengehört." Das ist – bei allen Unzulänglichkeiten – eine große Leistung der Menschen unseres Landes, in Ost und West, auf die wir wirklich stolz sein können. Vergessen wir nicht: Zusammenwachsen geht durch zusammen wachsen!

Aber wir dürfen auch nicht so tun, als wäre alles nur gut gewesen in den vergangenen 30 Jahren.
Es gab Rückschläge, Niederlagen, Verletzungen und Enttäuschungen beim schwierigen Übergang vom Staatssozialismus zur Markwirtschaft. Wohl 70 bis 80 Prozent der erwerbstätigen Ostdeutschen mussten sich nach 1990 beruflich neu erfinden, mussten umschulen, machten die harte Erfahrung der Arbeitslosigkeit. Viele junge Menschen zogen weg. Hoffnungen verpufften.

Dazu kamen Anfang der 2000er Jahre die Globalisierung und die Umstellung der deutschen Sozialsysteme. Sehr viel Veränderung auf einmal für sehr viele Menschen.
Und viele empfinden es heute als ungerecht, dass auch nach 30 Jahren Veränderung und harter Arbeit weder Renten noch Löhne auf gleicher Höhe angekommen sind. Das ist nicht nur eine Geldfrage, sondern auch eine Gerechtigkeits- und Gefühlsfrage.
Die Menschen im Osten sind in den vergangenen 30 Jahren mit all diesen Fragen unterschiedlich umgegangen. Bewegt hat es alle. Es sind ostdeutsche Lebensgeschichten, die Ost und West vielleicht auf den ersten Blick trennen. Die uns aber verbinden können, wenn wir sie uns erzählen. Und das gilt auch andersherum.

Das soll heute auch mein Thema sein: sich etwas erzählen, zuhören, vorurteilsfrei sein, bereit sein, das Gemeinsame zu erkennen und zu leben.

Meine Damen und Herren,
in welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Diese Frage bewegt uns alle hier im Plenum von Berufs wegen.

Es ist unsere Pflicht, den Menschen in unserem Land zu dienen und Gesellschaft zu gestalten. Und ich bin mir sicher, auch für Sie ist das nicht einfach nur eine Berufung: Es ist Ihr Leben.
In den vielen Gesprächen, die ich in letzter Zeit mit Bürgerinnen und Bürgern geführt habe, ist mir etwas aufgefallen: Die Menschen in unserem Land stellen sich diese so wichtige Frage ganz anders.

Kein Mensch fragt am Abendbrottisch:
Schatz, in welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Für die allermeisten Menschen definiert sich die Zukunft unserer Gesellschaft
zu allererst über ihre eigene Zukunft, ihrer Familie und Freunde.
Aber ist das falsch?
Sind sie deshalb egoistisch?
Unfähig zum Miteinander?
Eine Gefahr für die Demokratie?

Und sind wir Politiker anders?
Klar: Wir haben zuallerallererst das große Ganze im Auge.
Aber ist das falsch?
Ist Politik deshalb elitär?
Unfähig zum Miteinander?

Eine klare Antwort:
Nein!
Im Gegenteil!

Was die Menschen bei sich zuhause auf den Tisch packen.
Das bewegt sie, das ist ihnen wichtig, das ist ihr Leben.

Was dort besprochen wird, ist doch genau das, von dem wir sagen: Es ist uns wichtig, es ist unser Antrieb und unser Auftrag. Wenn wir gute Politik machen, dann reichen die Esstische bis in dieses Plenum. Dann sitzen wir alle an einem Tisch.

Aber dafür müssen wir die Menschen im Blick haben.
Dafür müssen wir mit ihnen sprechen.
Dafür müssen wir einander vertrauen.
Und ich frage mich: Gelingt uns das noch im ausreichenden Maße?
Tun wir dafür genug?
Oder reden und leben wir immer mehr aneinander vorbei?

In den letzten Wochen und Monaten wurde mir in meinen Bürgerdialogen oft gesagt: "Herr Woidke, dass Sie auf uns zukommen, mit uns offen reden, sich unsere Sorgen und Nöte anhören, ist wirklich ein gutes Signal." Viele von Ihnen, liebe Kollegen, haben mir Ähnliches berichtet. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Aber ich habe mich auch gefragt: Was denken Menschen über meine Arbeit, über uns als Politiker, wenn ihnen Menschlichkeit und ein Gespräch auf Augenhöhe mehr Hoffnung machen als unser politischer Inhalt?

Im Gespräch kommt dann meistens eines ganz klar raus:
Der Inhalt ist sehr wohl wichtig.
Und nie sind wir uns in allen Fragen einig.
Aber das ist nicht schlimm.
In der Demokratie geht es nicht um Einigkeit.

Es geht um gegenseitiges Verständnis und vor allem um Vertrauen auch in Uneinigkeit.

Natürlich kann und muss auch zwischen Politik und Gesellschaft nicht immer Einigkeit bestehen. Wir müssen wissen, was die Menschen bewegt.

In den letzten Jahren habe ich gelernt: Ich muss mir dafür noch mehr Zeit nehmen. Für mich ist es eine Frage des Respekts, dass ich mir diese Zeit nehme. Und außerdem erfahre ich auf diese Weise vieles direkt, von dem ich sonst nur auf Umwegen und vielleicht gefärbt erfahren würde.

Der politische Dialog ist lebendig wie lange nicht mehr. Das zeigen Wahlbeteiligungen, das zeigen auch die jungen Menschen bei "Fridays for Future" und viele andere Initiativen. Der politische Dialog bleibt lebendig, wenn er auch Menschen mit verschiedenen Ansichten friedlich zusammenführt.

Protest, Kritik, Fragen – das sind zunächst alles Einladungen zum Miteinander. Diese Fragen und Sorgen müssen wir ernst nehmen. Es ist Verunsicherung durch eine scheinbar aus den Fugen geratene Welt. Die Menschen beschäftigen Themen wie Stärkung der Regionen, Bildung, Klimaschutz, überfüllte Züge, langsames Internet, Mobilfunk ohne Verbindung.

Der Staat, wir Politiker, müssen den sich daraus ergebenden Pflichten nachkommen mit einem starken Staat, der Sicherheit gibt und investiert. Wenn ich kurz nach Brandenburg, in meine Heimat, blicken darf: Die neue Koalition wird kräftig investieren in diese Kernthemen. Dort investieren, wo es die Menschen im Land ganz konkret erleben. Das muss sich Deutschland insgesamt leisten. Egal ob Ost, West, Nord oder Süd. Egal ob Lauchhammer oder Duisburg.

Zugleich sage ich aber auch: In Zeiten sogenannter und vor allem selbst ernannter Influencer, wilder Facebook-Kommentare und eines Schlechtredens allenthalben wird es immer schwieriger, an die Menschen heranzukommen, echten Dialog zu führen. Wir freuen uns über Berichte in SZ oder FAZ, in Stuttgarter Zeitung oder Märkischer Allgemeine. Aber erreichen diese Medien damit noch die Menschen, um Dialog zu führen?

Gefährlich wird es, wenn ein Dialog nicht mehr möglich ist.
Gewalt, Hass und Hetze grenzen nicht nur aus.
Sie machen einen Dialog unmöglich.
Mit manchen Bühnen-Schreihälsen, die Demokratie und Verfassung verächtlich machen, ist Dialog tatsächlich nicht möglich. Darauf möchte ich gar keine Zeit verwenden.

Aber die vielen anderen will ich erreichen – die große Mehrheit, die eigentlich mitmachen will, die zurzeit aber aus vielschichtigen Gründen nur schwer zu erreichen ist. Vielleicht, weil ein "Rauschen" in der Leitung ist. Oder, um es kommunikationstheoretisch zu sagen: Sender und Empfänger kommen derzeit nicht zusammen.

Deshalb wünsche ich mir:
Gehen wir öfter aufeinander zu.
Schauen wir über den Tellerrand.
Wagen wir mehr Menschlichkeit.

Wer nur schimpft, bewegt nicht.
Wer verändern will, muss mitmachen am großen Projekt unserer Demokratie. In einem guten Gespräch hören beide Seiten zu, hinterfragen sich gegenseitig, aber bitte auch sich selbst. Wer diese Grundregeln beachtet, dem reiche ich immer wieder die Hand. Wer diese Grundregeln beachtet, dem reiche ich immer wieder die Hand.

Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Daniel Günther,

in einem Jahr Bundesratspräsidentschaft haben Sie gerade zu diesen Fragen viele Denkanstöße gegeben. Sie haben mahnende und wertschätzende Worte für den Föderalismus in unserem Land gefunden. Sie haben nordisch-frischen Wind und Ihre eigene Sicht eingebracht. Das hat mir und uns Mut gemacht. Ganz nach Ihrem Motto: „Mut verbindet“. Und dafür sage ich: Vielen Dank.

Mein Dank gilt auch den vielen, die uns am 3. Oktober in Kiel eines ganz deutlich gezeigt haben: Die Zeiten mögen ernst sein, aber wenn Menschen zusammenkommen, miteinander reden und gemeinsam etwas auf die Beine stellen, dann macht Demokratie immer noch richtig Spaß. Und Demokratie braucht unseren Einsatz.

Mit unserem Motto "Wir miteinander" will Brandenburg diesen Weg fortsetzen.

Deshalb bin ich auch dankbar für die Anstöße, die Ministerpräsident Günther für die behutsame Modernisierung unserer Arbeit im Bundesrat gegeben hat. Daran knüpfe ich gern an.

Wir sollten unsere Arbeit transparenter und offener gestalten, die Verfahren geänderten gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen anpassen. Deshalb möchte ich – ganz im Sinne des Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom Oktober – anregen, dass wir uns an eine Reform unserer Geschäftsordnung wagen. Dass wir Redezeitempfehlungen vereinbaren, dass wir das Fragerecht des Bundesrates stärker nutzen, dass wir unsere Debattenkultur stärker beleben. Dass wir darauf achten, dass Initiativen des Bundesrates in angemessener Zeit auch im Bundestag behandelt werden.

Das wird den Bundesrat stärken. Und damit werden wir auch den Föderalismus stärken. Der Föderalismus ist und bleibt eine der entscheidenden Erfolgsbedingungen in Deutschland. Und deshalb ist es auch wichtig, unsere Institutionen genauso zu modernisieren, wie unser Land moderner wird.

Im 30. Jahr der Deutschen Einheit übernimmt Brandenburg die Bundesratspräsidentschaft. Für mich persönlich schließt sich sogar ein Kreis: Wahrscheinlich bin ich der einzige hier im Saal, der auch schon vor 1989 in diesem Haus zu tun hatte – als Autor für den hier seinerzeit ansässigen Akademie-Verlag der DDR.

Die Bundesratspräsidentschaft ist für mich persönlich und unser ganzes Land eine große Ehre und Verpflichtung zugleich. Gemeinsam mit Ihnen und vielen anderen Menschen wollen wir dieses Jahr nutzen und unser Miteinander stärken.

Morgen ist der 9. November.

Wir alle wissen, wie wichtig dieser Tag der Erinnerung für uns Deutsche ist. Das gilt nicht nur für 1989, sondern gerade auch für 1938. Jener 9. November erinnert uns daran, was geschieht, wenn Hass gesellschaftsfähig wird. Das rassistische und menschenverachtende "Wir" der Nationalsozialisten hat Krieg, Zerstörung und Elend über die Welt gebracht. Es lebte vom Gegeneinander, suchte keine Kompromisse und keinen Ausgleich. Dieses "Wir" war nur darauf ausgerichtet, Hass, Ausgrenzung und mörderische Gewalt zu legitimieren.

Die Reichspogromnacht vor 81 Jahren erinnert uns auch daran, dass ein solches "Wir", dass sich selbst über andere stellt, unser Miteinander zerstört. Der 9. November 1938 ist Mahnung für uns alle:
Wir dürfen nicht zuschauen und zögern.
Wir müssen uns entschlossen wehren und schützend vor andere stellen, wenn menschenverachtende Sichten zu Worten und Taten werden.

Ganz anders war das "Wir" hunderttausender Menschen während der
friedlichen Revolution und beim Mauerfall 1989. Nicht nur weil es uns
Deutschen und Europa Frieden und Wohlstand gesichert hat.
Dieses „Wir“ war ein offenes.
Nach innen, wie nach außen.
Darauf ausgelegt, einander die Hand zu reichen.
Anerkennend, dass die eigene Freiheit nur dann etwas wert ist, wenn alle
Menschen in Freiheit und Frieden miteinander leben.

Nicht länger Ausgrenzung und Abschottung, sondern Demokratie und Freiheit - das waren die Ziele der friedlichen Revolution.

Dieser gemeinsame Traum hat Ostdeutsche und Westdeutsche immer verbunden. Am 3. Oktober 1990 wurde er für alle Menschen in unserem Land gesamtdeutsche Wirklichkeit. Daran möchte Brandenburg im Jahr seiner Bundesratspräsidentschaft erinnern.

Meine Damen und Herren,
hier im Bundesrat, wo wir die wichtige „Einheit in Vielfalt“ leben, hier fühle ich mich in meiner Sicht auf jene Zeit des Umbruchs und Aufbruchs bestärkt. Es darf keine Probleme geben, die wir nicht miteinander lösen können. Und das wird es auch nicht, wenn wir uns auf ein Miteinander einlassen.

Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass die Menschen in der Stadt und auf dem Land gute Zukunftsperspektiven haben. Dass wir mit einer fairen Lastenverteilung den Klimaschutz verbessern. Dass Digitalisierung den Menschen dient und nicht einigen wenigen Großkonzernen in der Welt. Vergessen wir dabei auch nicht unsere Partner in Europa.
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
35 Jahre nach Glasnost und Perestroika.
30 Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhanges – alles, was wir hier heute haben, verdanken wir auch unseren Nachbarn.

Es ist an der Zeit, dass wir für Frieden, Freiheit und Demokratie in Deutschland, aber auch in Europa und der Welt erneut enger zusammenrücken.

Mit Mut, mit Menschlichkeit und mit Solidarität wurde 1989 das Unmögliche möglich gemacht.

Und aus dieser Erfahrung bin ich mir sicher: Wir können alle Mauern
einreißen, die unser Miteinander gefährden.
Entscheidend ist, wie wir miteinander umgehen.

Vielen Dank.

Stand 07.11.2019

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