6. November 2015 Rede von Bundesratspräsident Stanislaw Tillich zum Antritt seiner Präsidentschaft

- Es gilt das gesprochene Wort -


Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wie vor 25 Jahren stehen wir heute in der Bundesrepublik Deutschland vor großen Aufgaben. Das war damals, vor 25 Jahren, ein revolutionärer Umbruch. Er war lange ersehnt, wurde mutig erstritten und ist heute zu einem ganz großen Teil gemeistert. Das Gelingen verdanken wir einer gemeinsamen Aufbauleistung und der großen Solidarität in Deutschland und in Europa.

Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind vergleichbar groß. Aber sie sind ganz andere als die vor 25 Jahren. Heute geht es um Menschen, die zu uns kommen, um Flüchtlinge und Asyl, um Zuwanderung und Integration, um Perspektiven hier vor Ort, bei uns in Deutschland.

Und es geht um andere große Fragen: um den Länderfinanzausgleich, um die Energiewende, um Deutschland als Industrieland. Es geht um die Zukunft Europas auf der einen Seite und um die Zukunft unserer Kommunen auf der anderen Seite. Nicht zuletzt geht es um unsere Werte.

Für mich bedeutet das: Sachsen übernimmt die Bundesratspräsidentschaft in einer sehr bewegten Zeit. Die Aufgaben, vor denen wir stehen, werden nicht kleiner, sondern größer, nicht einfacher, sondern schwieriger.

Wenn wir also in 25 Jahren sagen wollen: "Wir haben diese Aufgabe gut gemeistert", dann müssen wir jetzt erst Recht gemeinsam handeln. Der Bundesrat steht für diese Gemeinsamkeit. Föderalismus heißt, dass eigenständige – ich sage: auch selbstbewusste Länder – eine Gemeinschaft, ein Ganzes bilden. Die Bundesrepublik wird hier im Saal lebendig. Der Bundesrat ist das demokratische Bindeglied unserer Nation. Die Gemeinschaft der Länder steht auch für die Gemeinschaft der kommunalen Familie, ohne die unsere Länder nicht zu denken sind. Wir sind auch Bindeglied zwischen den Regionen und der Europäischen Union.

Ich durfte in der ersten Woche meiner Präsidentschaft schon deren Ehren und gleichzeitig deren Freuden erleben - bei meiner Reise zum Vatikan und nach Italien. Lieber Volker, deshalb kann ich schon jetzt ganz gut verstehen, dass Präsident für ein Jahr zu sein eigentlich viel zu kurz ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist guter Brauch, dass jede Bundesratspräsidentschaft unter einem Leitmotiv steht. Unser sächsisches Leitmotiv ist: "Brücken bauen". Wir müssen Sorge tragen für starke Brücken in der Politik - zwischen dem Bund und den Ländern, zwischen Ländern und Kommunen und innerhalb Europas.

Und ich denke, es braucht heute neue Verbindungen in unserer Gesellschaft - zwischen Ängstlichen und Mutigen, zwischen Landsleuten und noch Fremden, zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, zwischen Tradition und Innovation, zwischen unserer Heimat und der Welt.

Unsere Gesellschaft wird gerade auf die Probe gestellt. Deshalb sind mir diese Verbindungen so wichtig. Manchmal denke ich, dass wir uns in Deutschland nach 25 Jahren deutscher Einheit recht gut eingerichtet haben. Daran ist nichts Verwerfliches, es darf uns aber nicht träge machen und blind für die Welt um uns herum.

Sie bewegt sich und ändert sich rasant. Auch das Leben bei uns verändert sich. Wir werden nur Schritt halten können, wenn wir uns von Neugier leiten lassen. Sie ist es, die uns dabei hilft, erst einmal offen und optimistisch auf Neues zu schauen und dann zu sehen, was wir Gutes für uns und unser Land daraus machen können.

Damit all das, was wir vorhaben, tragfähig und erfolgreich sein kann, sollten wir uns immer zuerst mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut machen, mit den Bedürfnissen und den Möglichkeiten. Leider vergessen zu viele, dass so Föderalismus funktioniert und nur so Subsidiarität gelebt werden kann. Das gilt in Europa, in Deutschland und in den Ländern und den Kommunen.

Im Ausland wird unser Föderalismus geschätzt – im Inland reden wir ihn manchmal schlecht. Das ist ein Fehler; denn das föderale Deutschland ist ein friedliches Deutschland. Den Diktaturen in unserem Land fehlte eben dieses demokratische Machtkorrektiv.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges hat auch Europa ein neues Gesicht bekommen. Nun haben wir neue Beziehungen zu unseren alten Nachbarn in Mittel- und Osteuropa. Sie wollten nach Westen. Sie haben für ihren Beitritt zur NATO, zur EU und zur Währungsunion große Anstrengungen unternommen. Sie sind dafür zum Teil einen harten Weg gegangen. Und sie haben es geschafft. Aber haben wir sie wirklich in unsere Europäische Union integriert? Und: Haben sie sich wirklich integriert? Angesichts der Krisen, vor denen wir stehen, sollten uns beide Fragen mit Sorge, aber auch mit Aufmerksamkeit erfüllen und uns anspornen, als Europäer wieder gemeinsam zu handeln. Das ist bitter nötig.

Europa macht gerade keine gute Figur. Man könnte auch sagen: Die Europäische Union der Nationalstaaten ist in der aktuellen Krise schon krank. Umso wichtiger ist, dass das Europa der Regionen gesund ist. Europäische Einheit wird in den grenzüberschreitenden Regionen gelebt, die 10 unserer 16 Länder mit ihren europäischen Partnern bilden. Sie macht diese Regionen stark. Sachsen hat mit dem Beitritt Polens und Tschechiens zur EU seine Perspektiven verdoppeln können. Europa ist für uns zu einem "Rundumblick" geworden. Die offenen Grenzen bringen uns weit mehr Vorteile als Nachteile. Aber letztere darf man nicht verschweigen; denn auch sie sind in den Regionen zu spüren, dort zuerst und am deutlichsten. Deshalb ist es mir wichtig, die Anliegen der Regionen stärker zur Geltung zu bringen, in Europa, aber auch gegenüber dem Bund.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

es sind doch die Länder und die Kommunen, in denen momentan die Weltpolitik durch- und aufschlägt. Bleiben wir Länder deshalb weiter unnachgiebig und hartnäckig, wenn es darum geht, unsere Interessen und die unserer Kommunen beim Bund zu vertreten! Das gilt nicht nur für das Thema Asyl. In den Kommunen ist Politik für den Einzelnen direkt erfahrbar und überschaubar. Dort hat Verantwortung ein Gesicht, eine Stimme und einen Herzschlag. Dort beginnen Akzeptanz und Zustimmung. Das heißt für mich auch: Bei uns in den Ländern und Kommunen muss die Integration gelingen; das Brückenbauen zwischen den Menschen muss gelingen.

Dazu braucht es engagierte Baumeister. Die haben wir. Die Menschen in unseren Kommunen und unseren Ländern engagieren sich - in der Familie und am Arbeitsplatz, in Vereinen und Parteien, in Gewerkschaften und Kirchen, im Ehrenamt und in der freien Wohlfahrtspflege, im Bundesfreiwilligendienst oder in einzelnen sozialen Projekten. Die Menschen in unserem Land zeigen mit ihrem Einsatz, wie es geht, wie Integration geht. Sie füllen mit ihrem Engagement den Rahmen aus, den uns das Grundgesetz gibt. Ihr Engagement schafft den Zusammenhalt, den unsere Gesellschaft auch braucht. Sie sind dabei in den letzten Monaten bis an ihre Grenzen gegangen, zum Teil auch darüber hinaus. Das ist vorbildlich und sollte uns alle mahnen, dass es nicht immer nur um Wertschöpfung, sondern auch um Wertschätzung geht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wertschätzung müssen wir auch einfordern für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie gibt unserem Zusammenleben Ordnung und Stabilität. Sie gibt uns zugleich die Gelassenheit, auch große Herausforderungen zu meistern und flexibel zu handeln.

Für manchen mag das altmodisch klingen, aber die Regelungen, die die Mütter des Grundgesetzes - ich meine natürlich die Mütter und die Väter des Grundgesetzes - 1949 getroffen haben, sind zeitlos. Sie sichern uns auch im 21. Jahrhundert nach innen und nach außen Grundrechte, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das ist für viele selbstverständlich. Dennoch müssen wir uns um unsere Werte kümmern. Wir müssen sie leben, um sie zu verteidigen. Das verlangt Haltung - nach innen, aber auch gegenüber denen, die zu uns kommen und bei uns bleiben.

Wir dürfen nicht sprachlos bleiben, nicht untereinander, erst recht nicht gegenüber denjenigen, die zu uns kommen. Wir müssen sagen, wer wir sind, was uns ausmacht und was uns wichtig ist. Nur so kann Integration gelingen. Nur so bewahren wir, was uns wichtig ist. Nur so wird die Vielfalt im Land zu einer Bereicherung. Es muss allen klar sein: Das Grundgesetz und unsere Werte gelten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir also über den Tag hinaus und arbeiten wir in diesem Sinne gut zusammen!

Für den Präsidenten ist das eine Jahr eine kurze Spanne. Für unser Land ist das vor uns liegende Jahr eine ganz entscheidende Zeit. Mein Wunsch ist deshalb: Bauen wir in der Gemeinschaft der Länder mit unseren Werten immer wieder neue Brücken im Alltag - für eine stabile und sichere Gesellschaft, für eine gelingende Integration, damit Deutschland das bleibt, was es ist: ein Land, das seine Geschichte kennt und die Zukunft verantwortungsvoll gestaltet; ein Land, das ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist, so wie es im Grundgesetz steht.

Dafür braucht es starke Länder, deren Bürger überzeugte und engagierte Demokraten sind. Dafür braucht es Länder, die ihre Aufgaben schaffen können, weil sie gefordert, aber nicht überfordert sind. Nur so können wir Länder gemeinsam mit den Kommunen, dem Bund und der Europäischen Union die politische Verantwortung für Frieden und Freiheit, Wohlstand und Sicherheit tragen. Daran gemeinsam in der Länderkammer in den kommenden zwölf Monaten zu arbeiten, darauf freue ich mich. Packen wir es an! Glück auf!

Vielen Dank!

Stand 06.11.2015

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