Gedenkrede von Bundesratspräsident Bodo Ramelow zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma am 2. August 2022 „Wir trauern und umarmen uns“

Foto: Bodo Ramelow

© Jacob Schröter/TSK

Bei einer Gedenkfeier auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau erinnerte Bundesratspräsident Bodo Ramelow in einer Rede an die Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an Sinti und Roma.

- Sperrfrist Redebeginn, es gilt das gesprochene Wort! -

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir stehen hier zusammen an einer Stelle des Grauens. 4.300 Kinder, Frauen und Männer – umgebracht in einer einzigen Nacht. In der Nacht vor genau 78 Jahren. Es waren 4.300 Mitmenschen. 4.300 von einer halben Million Sinti und Roma, die während der NS-Diktatur ermordet wurden. Ein Überlebender sagte über die Unmittelbarkeit des heutigen Tages: „Jedes Jahr ergreift uns den ganzen Tag über erneut die Angst vor einem furchtbaren Tod. Wir trauern, als ob es unser letzter Tag wäre. Erst morgen werden wir wissen, ob wir überlebt haben.“

Wir sind heute hier, um dem Grauen ins Gesicht zu schauen und es dadurch sichtbar zu machen. Wir sind hier, um zusammen den Opfern die Ehre zu erweisen und um sie zu trauern. Und wir sind hier, um mit den Überlebenden und den nachgeborenen Familienangehörigen die Erinnerung wachzuhalten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

erinnern heißt für mich vor allem, die Ursachen nicht zu vergessen, die zu diesem Verbrechen führten. Genau wie Juden und andere Minderheiten wurden Sinti und Roma bis in den Tod verfolgt, weil eine rassistische Ideologie ihnen das Recht zu leben absprach. Die Wurzeln des Rassismus reichen tief. Er beginnt, wo Menschen unfähig sind, mit denen zusammenzuleben, die als anders empfunden werden. Hinzu kommt die Vorstellung, dass manche Menschen mehr Wert seien als andere und deshalb das Recht hätten, gegen andere jede Form von Gewalt auszuüben. Rassismus ist eine Form der Ausgrenzung, die stets zu Gewalt führt und im Nationalsozialismus als Staatsverbrechen organisiert wurde. Ich habe den Rassismus gegenüber Sinti und Roma in dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen bin, noch gut in Erinnerung. Dieser Alltagsrassismus bildet die Grundlage des großen Verbrechens. Weil Menschen bereits von klein auf darauf konditioniert werden, andere Menschen abschätzig zu betrachten. Und weil Rassismus die Bereitschaft untergräbt, für Mitmenschen einzustehen und ihnen zu helfen, wenn diese verfolgt werden. So hat die Ermordung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus eine lange Vorgeschichte der Bedrängung. Und sie hat eine Nachgeschichte, die bis heute reicht. Denn die Bedrängung war mit der Befreiung Europas im Jahr 1945 für Sinti und Roma leider bei Weitem nicht vorbei. Sie wurden erneut kriminalisiert – zum Teil von denselben Nazis, die weiter in Amt und Würden blieben. Schlimmer noch: Mit der Kriminalisierung ihrer gesamten Bevölkerungsgruppe wurde ihnen lange der Opferstatus abgesprochen. Als trügen sie gewissermaßen selbst die Schuld an ihrer Verfolgung! Und wie sah es aus, als die Überlebenden in ihre Heimatorte zurückkamen? Es waren dieselben Schulleiter da, die ihre Kinder an die Nazi-Schergen ausgeliefert hatten. Dieselben Polizisten, die sie abgeholt hatten. Dieselben Ärzte, die ihnen die Behandlung verweigert hatten.

Ich habe als Bundesratspräsident in meiner Rede vor dem Bundesrat am 17. Dezember letzten Jahres mit Nachdruck gefordert, dass diese „Zweite Verfolgung“ nach 1945 aufgearbeitet wird. Darüber hinaus brauchen wir insgesamt ein größeres Forschungsinteresse. Sinti und Roma leben seit über 1.000 Jahren unter uns und mit uns. Es gibt noch viel zu wenig Literatur, Film und Fernseh-Beiträge über die Geschichte, Kultur und Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma, der Jenischen und anderer Minderheiten in Deutschland und Europa. Und unsere Erinnerungskultur muss umfassender und sichtbarer werden. Dazu gehören der Erhalt und die Pflege der Grabstätten NS-verfolgter Sinti und Roma, die eine so wichtige Rolle im Bewusstsein und als Identitätsanker spielen. Auch in unseren Schulen und Bildungseinrichtungen muss das Interesse ankommen. Wir müssen diese unheimliche Stille aufbrechen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich stehe hier nicht nur als Bodo Ramelow oder als Ministerpräsident eines Bundeslandes, sondern als deutscher Bundesratspräsident. In diesem Monat vertrete ich zudem den Bundespräsidenten, von dem ich Sie sehr herzlich grüße. Deshalb, lieber Romani Rose, gedenken Sie und die Menschen Ihrer Minderheit heute nicht alleine. Deutschland gedenkt mit Ihnen! Es liegt in der Verantwortung unserer Gesamtgesellschaften, die Opfer anzuerkennen, den Überlebenden mit ihren Nachkommen zu sagen, dass so etwas nie wieder passieren wird. Und dafür auch alles zu tun! Denn Deutschland und die anderen Länder, in denen Sie leben, brauchen Sie! Sie sind ein wichtiger Teil unseres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Sie gehören zu uns. Bitte verstecken Sie sich nicht. Feiern Sie Ihre Identität und lassen Sie uns daran teilhaben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Unser Zusammenleben kann nur auf Augenhöhe gelingen. Davon sind wir in Europa noch weit entfernt. Denn Augenhöhe ist nicht nur eine Frage individueller Einstellungen, sondern der konkreten sozialen Gleichheit und politischen Teilhabe. Die Roma sind Europas größte ethnische Minderheit. Und doch werden Sie vielerorts wieder in einer Art unausgesprochener Apartheid an den Rand gedrängt. Sie erleben in vielen Ländern Hass, Ausgrenzung, Rassismus, Gewalt und das Vorenthalten von bürgerlichen und sozialen Rechten. Die Transformationszeit nach dem Ende des Kalten Krieges ist nicht gut zu Ihnen gewesen. Von dem Aufbruch nach Europa und der Verankerung seiner Werte haben Sie zu wenig gespürt. Ja, die Europäische Dekade der Roma hat die Probleme dieser Bevölkerungsgruppe in den Fokus gerückt, und die Kommission und der Rat haben im Rahmen ihrer Roma-Strategie die Mitgliedsstaaten zu konkreten Zielen bei der Integration der Roma verpflichtet. Aber 2017 hat die Kommission die Umsetzung dieser Beschlüsse evaluiert, und der Befund in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnung und Gesundheitspflege ist niederschmetternd. In unseren Ländern scheinen selbst in guten Zeiten andere Probleme immer drängender zu sein. In Krisenzeiten sind es dann leider ohnehin die Schwächeren, die als erste hinten herunterfallen. Wir müssen aber dabei bleiben: Ein Europa ohne die Gleichberechtigung der Roma kann und darf es nicht geben. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Art und Weise, wie Sinti und Roma behandelt werden, wie überhaupt mit Minderheiten umgegangen wird, ein wichtiges Kriterium für die Aufnahme neuer Länder in die EU ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich sage dies alles in einer Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht. In einer Zeit in der wieder Bomben fallen, Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, ganze Landstriche verwüstet werden. Das sind Zeiten, in denen Menschen fliehen; Zeiten, in denen Menschen vertrieben werden. Die Geschichte – gerade auch die des Holocaust – lehrt uns, dass dabei immer jene Minderheiten besonders betroffen sind, die schon immer ausgegrenzt wurden. Deshalb müssen wir besonders hinschauen, wie alle Beteiligten während des Krieges gegen die Ukraine mit den Roma und anderen Minderheiten umgehen. Der Krieg darf nicht die Kulisse sein oder gar als Vorwand dienen für eine Vertreibung der Roma aus der Ukraine. Wir wollen eine Ukraine in der Europäischen Union begrüßen dürfen, welche die Europäischen Roma-Konventionen einhält.

Meine Sehr verehrten Damen und Herren, lieber Romani Rose,

Der Begriff „Holocaust“ hat sich für die organisierte Kriminalität des Völkermordes etabliert, mit dem das nationalsozialistische Deutschland ganz Europa überzog. Er beschreibt eine alles erfassende Feuerbrunst. Hier in Auschwitz, wo die Öfen zur Verbrennung der Ermordeten standen, ist er besonders einprägsam. Von Menschen sollte nur noch Asche bleiben. Das Feuer des Rassismus sollte ganze Menschengruppen verschlingen.

Liebe Freunde,

wir dürfen heute hier stehen, weil dies nicht gelungen ist. Sie und die Nachkommen derjenigen, die hier vernichtet werden sollten, sind immer noch hier. Um zu trauern und zu leben. Und um statt des Verschlingens das gegenseitige Umschlingen auf dieser Welt möglich zu machen.

Wir trauern und umarmen uns.

Stand 02.08.2022

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