15.12.2023

Pressemitteilung Rede von Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig zum Gedenken an die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti, Roma und Jenischen

Foto: Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig bei ihrer Gedenkrede am Redepult

Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig bei ihrer Gedenkrede

© Bundesrat | Sascha Radke

Zu Beginn der Plenarsitzung gedachte der Bundesrat am 15. Dezember 2023 der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti, Roma und Jenischen. In ihrer Rede erinnerte Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig an das erlebte Leid und betonte die Zugehörigkeit von Sinti, Roma und Jenischen zu Deutschland. Im Anschluss erhoben sich die Mitglieder des Bundesrates zu einer Schweigeminute.

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrte Vertreter des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, der Sinti Allianz Deutschland, der Bundesvereinigung der Sinti und Roma und des Zentralrats der Jenischen,
sehr geehrte Damen und Herren,

auch in diesem Jahr gedenken wir am letzten Plenartag des Jahres im Bundesrat der Sinti und Roma und der Gruppe der Jenischen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Ein würdiges Gedenken an diese Menschen, die zu Deutschland gehörten, die Nachbarinnen und Nachbarn, Bekannte, Freundinnen und Freunde, Mitbürgerinnen und Mitbürger waren, ist uns ein Anliegen. Ein Anliegen aus unserer Geschichte, das in die Gegenwart hineinreicht: Denn Vorurteile gegen Sinti und Roma gibt es heute noch. Sich mit der Geschichte der Sinti, Roma und Jenischen auseinanderzusetzen und Vorurteilen entgegenzutreten, ist eine gemeinsame Aufgabe für das Zusammenleben in Vielfalt in unserem Land.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in Deutschland waren Sinti und Roma seit Jahrhunderten zu Hause. Sie hatten typische Berufe, etwa Pferdehändler, Kleidungshändler, Metallarbeiter oder Schausteller. Einige kamen sogar zu Wohlstand. Manche lebten in eigenen Häusern in den kleinen Städten, andere waren mit ihren Wohnwagen unterwegs.

Auch die Jenischen leben seit vielen hundert Jahren in Europa. Oft zogen sie durchs Land, eng verbunden mit Musik, Kunst, Handwerk und Zirkus. Einige Menschen, die sich selbst als Jenische verstehen, leben immer noch in Deutschland. Es gibt in Bayern sogar einen Fußballverein, der seine jenischen Wurzeln pflegt. Aber die meisten in Deutschland wissen wenig bis gar nichts über die Jenischen. Ihre Geschichte und ihr Leben müssen wir viel mehr ins Bewusstsein rücken.

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Wege vieler Sinti und Roma in Mecklenburg-Vorpommern kreuzten sich im verkehrsmäßig günstig gelegenen Weitin bei Neubrandenburg. Dort lebten etliche Familien in ihren Wohnwagen vor allem im Sommer in der Nähe des Dorfes in einer früheren Sandgrube. Sie hatten vielfältige Kontakte zur übrigen Bevölkerung. Neben Sinti und Roma zu leben, war in Deutschland normal.

Aber nicht harmonisch und gleichberechtigt. Sinti und Roma hatten schon lange mit Vorurteilen und Diskriminierungen zu kämpfen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde daraus eine gesetzlich begründete, vom Staat aktiv betriebene Ausgrenzung und Unterdrückung. Bereits 1933 begannen Zwangssterilisierungen. Seit den Nürnberger Gesetzen 1935 konnten Sinti und Roma nur noch untereinander heiraten. Ab 1939 durften sie ihren Wohnort nicht mehr verlassen. Viele Kinder wurden den Eltern weggenommen und in Kinderheime gesteckt. Im Frühjahr 1940 begann die systematische Deportation von Sinti und Roma in Lager und Ghettos im Osten, verbunden mit Zwangsarbeit.
Am 16. Dezember 1942 ordnete Heinrich Himmler an, alle Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu deportieren.

Am 8. März 1943 trieben Polizei und SA-Leute aus dem Dorf die Menschen in Weitin aus ihren Wohnwagen. Sie wurden in Gefängnissen gesammelt und von dort weitertransportiert. Die Dorfbewohner nahmen sich die Wohnwagen. Aus einem hat sich der Dorfbürgermeister einen Hühnerstall gemacht. Und ein Neubrandenburger erinnerte sich später an den Puppenwagen, den sie mitgenommen haben und mit dem seine Schwester noch lange gespielt hat. Wir denken heute auch an die Gleichgültigkeit, mit der die allermeisten Menschen in Deutschland auf den Abtransport ihrer Nachbarn reagiert haben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

auch in Schwerin wurden am 8. März 1943 Sinti und Roma verhaftet und deportiert. Einer davon war Vincenz Rose. Der Onkel des heutigen Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Ihr Onkel, sehr geehrter Herr Rose. Seine Höllenfahrt durch die Vernichtungs- und Arbeitslager hat in Mecklenburg-Vorpommern begonnen.

Vincenz Rose hat überlebt. Aber von den insgesamt 40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden über 25.000 ermordet. In Europa wurden mehrere 100.000 Sinti und Roma Opfer des Porajmos, der rassistischen Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland. Die Überlebenden kamen mit schrecklichen Erinnerungen zurück. Auch später kostete es sie viel Überwindung, über die Jahre der Verfolgung zu sprechen. Die allermeisten hatten ihre Familienangehörigen verloren. Lagerhaft und Zwangsarbeit haben viele krank gemacht.

Sehr geehrte Damen und Herren,

einige Überlebende kehrten nach all dem Leid nach Weitin zurück. An ihrem früheren Wohnort war die Chance am besten, Familienangehörige wiederzutreffen. Einige Sinti und Roma siedelten sich wieder dort an. In der DDR waren sie rechtlich gleichgestellt. Das war ein Fortschritt. Aber in der sozialistischen Planwirtschaft waren die traditionell selbstständigen Berufe der Sinti und Roma nicht vorgesehen. Viele, die eine Anerkennung als Verfolgte des Nazi-Regimes beantragten, erlebten außerdem die gleichen Vorurteile wie früher. Sie wurden gedemütigt und abgewiesen. Anpassung oder Ausgrenzung – für die eigenständigen Traditionen und die Bedürfnisse der Sinti und Roma war kein Platz, weder in der DDR noch in der Bundesrepublik.

Denn das „Bundesentschädigungsgesetz für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ von 1956 schloss Sinti und Roma zunächst weitgehend aus. Es war ein langer und zermürbender Weg, das zu ändern. Dass sich die Bundesrepublik 1982 zu ihrer Verantwortung bekannt hat, ist vor allem das Verdienst der Verbände der Sinti und Roma.

Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Verbände,

ich habe großen Respekt vor Ihrem Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Es ist ein trauriger Anlass, der uns heute zusammenführt. Und doch ist es gut, dass wir heute gemeinsam an das Leid der Sinti und Roma denken. Vielen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz!

Wenn wir uns Geschichte bewusstmachen, können wir für heute und für die Zukunft lernen. Das ist auch nötig. In einer Umfrage von 2014 haben 55,4 Prozent der Befragten gesagt, sie hätten Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Gegend aufhalten. 47 Prozent wollten Sinti und Roma aus den Innenstädten verbannen.

Das Pogrom am Rostocker Sonnenblumenhaus 1992 richtete sich gegen alle Asylsuchenden, vor allem aber gegen die Roma, die sich dort aufhielten. Was damals geschah, darf sich niemals wiederholen. Es muss in Erinnerung gehalten werden.

Sehr geehrter Herr Rose,

Sie waren im vergangenen Jahr zusammen mit unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier bei einer Gedenkveranstaltung in Rostock und haben dort auch mit Roma gesprochen, die 1992 selbst betroffen waren. Das war ein ganz wichtiger Schritt der Aufarbeitung.

Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus berichtet von etwa 600 Diskriminierungen, Beleidigungen und Beschimpfungen, Drohungen und Gewalttaten gegen Sinti und Roma im Jahr 2022. Die alten Vorurteile sind immer noch erschreckend lebendig.

Wenn wir also heute der Sinti und Roma gedenken, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden, dann ist dies nicht nur ein Blick zurück. Ein würdiges Gedenken an das Leid der früheren Generationen ist die Grundlage für ein gutes, gleichberechtigtes Zusammenleben heute. Ein Zusammenleben, verbunden mit der Bereitschaft, sich mit der Geschichte der Sinti, Roma und Jenischen auseinanderzusetzen und ihre Besonderheiten zu respektieren. Denn sie gehören zu Deutschland.

Ich bitte Sie nun, sich von Ihren Plätzen zu erheben und der Sinti, Roma und Jenischen zu gedenken, die zwischen 1933 und 1945 Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen wurden.

Vielen Dank.

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