14.10.2005

in der 815. Sitzung des Bundesrates am 14. Oktober 2005 Rede von Bundesratspräsident Platzeck zum Abschluss seiner Präsidentschaft

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Land Brandenburg war für ein Jahr mit der Aufgabe betraut, die Präsidentschaft im Bundesrat zu stellen. Das war Pflicht und Ehre zugleich.

Dieses Jahr geht nun zu Ende. Es war das 15. Jahr der Deutschen Einheit. Wir haben dieses Ereignis in Potsdam gebührend gefeiert. Wir konnten ein wunderbares Bürgerfest ausrichten, das vielen Zweiflern an der deutschen Einheit den Wind aus den Segeln genommen hat.

Wir haben Grund zu Stolz und Selbstbewusstsein über das Erreichte. Wir übersehen dabei die Probleme wahrlich nicht. Wir werden sie nur gemeinsam lösen können, wenn wir sie mit Leidenschaft, mit Hingabe und dem Willen zum Gelingen auch angehen. Der Aufbau Ost bleibt Voraussetzung für die weitere Entwicklung auch in Westdeutschland. Das gilt genauso umgekehrt: Nur gemeinsam werden wir in Nord, Süd, West und Ost vorankommen. Bei der notwendigen weiteren Modernisierung unserer Wirtschaft darf - das halte ich für entscheidend - die soziale Gerechtigkeit nicht unter die Räder kommen.

Diese Bundesratspräsidentschaft fiel in ein Jahr wichtiger Ereignisse, in eine Zeit, in der Deutschland entgegen aller Voraussicht plötzlich wieder mitten im Wahlkampf stand. Durch die nach der Wahl entstandene Situation werden in den nächsten Wochen nunmehr Verhandlungen zur Bildung einer großen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Das hat Kräfte gebunden, andererseits sicherlich auch Potenziale freigesetzt. Auf jeden Fall hat es die Arbeit des Bundesrates beeinflusst.

Eine große Rolle spielte demzufolge der Vermittlungsausschuss, in dem versucht wurde, trotz unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse in den Verfassungsorganen politische Kompromisse zu erreichen. Manchmal gelang dies trotz intensiver Bemühungen nicht, z. B. bei der Eigenheimzulage, beim Gentechnikrecht, in Steuerfragen. Es gab aber auch Erfolg bei den Bemühungen: beim Aufenthaltsrecht, bei der Verbesserung des vorbeugenden Hochwasserschutzes, bei der Kontrolle der Energie-, Telekommunikations- und Eisenbahnnetze durch die Bundesnetzagentur oder bei der Lärmbekämpfung - überall konnten wir uns einig werden. Die Mitglieder des Bundesrates sind nach bestem Wissen und Gewissen ihrer Verantwortung für die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik nachgekommen.

Das Jahr 2005 ist für die Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich auch mit dem 60. Jahrestag der Befreiung verbunden. Wir haben dieses Jahrestages auf der zentralen Veranstaltung in Buchenwald und anderswo gemeinsam mit den Völkern gedacht, die unter der Naziherrschaft besonders gelitten haben. Wir konnten Menschen aus Polen, Russland, Tschechien und Ungarn, wir konnten Franzosen, Engländern und Amerikanern, Juden, Sinti und Roma einmal mehr versichern, dass uns die Vergangenheit nicht loslässt und dass wir die Konsequenz gezogen haben: Von Deutschland wird nie wieder Krieg ausgehen. Wir konnten deutlich machen: Schuld ist heute unsere Verantwortung.

Wie wichtig dieses Bekenntnis ist, sehen wir daran, dass Rassenhass, das Leugnen des Holocaust oder auch nationalsozialistisches Denken noch längst nicht aus den Köpfen aller Menschen in Deutschland verschwunden sind. Wir wollen und werden das nicht hinnehmen. Eine angemessene Reaktion kann nur die intensive und offensive Auseinandersetzung mit den Feinden der Demokratie, mit den Feinden der Menschlichkeit sein. Wir dürfen nicht verstummen, wir müssen hinsehen. Wir müssen uns mutig und entschlossen gegen die Neonazis stellen. Mit dieser konsequenten Haltung konnte die Bundesrepublik Deutschland in aller Welt ihre Zuverlässigkeit beweisen und sich als vertrauenswürdiger Partner zeigen.

Meine Damen und Herren, als wir vor wenigen Tagen, am 3. Oktober, gemeinsam den Tag der Deutschen Einheit feierten - ich möchte an dieser Stelle nachdrücklich für die breite Teilnahme der Vertreter der übrigen Länder noch einmal sehr herzlich danken -, konnten wir im Beisein vieler europäischer Gäste deutlich verspüren, dass die Deutsche Einheit und die der Europäischen Union wahrlich Seiten ein und derselben Medaille sind. Wir alle sind aufgerufen, weiterhin an der Einheit Europas zu arbeiten, auch wenn es, wie im Zusammenhang mit dem Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrages in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, zu Rückschlägen gekommen ist. Das sollte uns vielmehr anspornen, den europäischen Einigungsprozess weiter voranzubringen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen auf diesem Weg mitgenommen werden, z. B. durch die Verstärkung der europapolitischen Kommunikationsarbeit oder auch durch die Überzeugungskraft von noch viel mehr regionalen grenzüberschreitenden Begegnungen der Menschen in Europa.

Eines steht fest: Die Europäische Union wird nicht von allein aus der momentan schwierigen Situation herauswachsen. Und auch wenn wir den Ratifikationsprozess im Hinblick auf den Verfassungsvertrag auf der denkwürdigen Sitzung am 27. Mai im Beisein von Giscard d'Estaing vollzogen haben, bleibt der Bundesrat aufgerufen, die Zukunft Europas mitzugestalten und dabei mitzuhelfen, den Menschen mehr als bisher zu vermitteln, wohin wir mit unserem Europa eigentlich wollen.

Meine Damen und Herren, bei meinen Reisen als Bundesratspräsident, die mich unter anderem nach China, Vietnam, Russland und Ungarn führten, spürte ich überall die große Wertschätzung, die unserem Lande entgegengebracht wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein geachteter und gesuchter Partner in der Welt.

Daneben ist es die politische Kultur unseres Landes, der man Hochachtung entgegenbringt. Die konsequent demokratischen Strukturen, zu denen das föderal aufgebaute System der Bundesländer mit seinem obersten Gremium, dem Bundesrat, gehört, sind für unsere Partner Garanten der Verlässlichkeit. So gut wie diese Strukturen nach außen wirken, so wichtig bleibt es, Bewährtes beizubehalten, Überkommenes über Bord zu werfen und zu modernisieren.

Ich bin außerordentlich besorgt - ich meine, ich teile diese Sorge mit vielen von Ihnen -, dass es noch nicht gelungen ist, die längst überfällige Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern zu Stande zu bringen. Die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung war mit großen Hoffnungen gestartet. In meiner Antrittsrede vor einem Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass wir uns ein Scheitern der Arbeit der Kommission nicht leisten können. Wir haben eingefordert, dass wir klare Kompetenzabgrenzungen, nachvollziehbare Verantwortlichkeiten, schnellere Entscheidungen und ein System brauchen, das Deutschland gegenüber der Europäischen Union und auch im globalen Wettbewerb wesentlich handlungsfähiger macht, als es heute ist.

Wir müssen und werden dieses Thema möglichst schnell wieder auf die Tagesordnung setzen. Eine ebenso rasche wie tragfähige Einigung ist im Interesse des gesamten Landes dringend erforderlich. Ich habe Hoffnung, dass uns das gemeinsam mit der neuen Bundesregierung diesmal auch gelingt.

Die weiteren künftigen Herausforderungen sehe ich im Erhalt des Sozialstaates, bei der demografischen Entwicklung und im Bürokratieabbau. So unterschiedlich diese Begriffe klingen, so eng sind sie doch miteinander verzahnt. Eines ist ohne das andere nicht mehr zu denken.

Der Umgang mit dem demografischen Wandel ist eine gesamtdeutsche Aufgabe, die wir dringend anpacken müssen. Angesichts der gravierenden Folgen für alle Bereiche unserer Gesellschaft ist der Handlungsdruck enorm. Bis zum Jahr 2020 - das liegt nicht in weiter Ferne - werden auch westdeutsche Städte und Regionen mit Bevölkerungsverlusten im bis zu zweistelligen Bereich rechnen müssen. Im Osten Deutschlands sehen wir uns diesem Problem seit einigen Jahren bereits konkret ausgesetzt. Wir verzeichnen einen gravierenden Geburtenrückgang. Vor allem junge gut ausgebildete Frauen wandern ab. Die Lebenserwartung steigt. Die Überalterung ganzer Landstriche vollzieht sich in enormem Tempo.

Grundsätzlich bedeutet demografischer Wandel nicht nur quantitative Veränderung der Bevölkerungszahl. Demografischer Wandel heißt auch Änderung der Alters- und Sozialstruktur sowie räumliche Ausdünnung an der einen und weitere Verdichtung an der anderen Stelle. Es bedeutet soziale Segregation - ein Phänomen, dass bisher vorwiegend aus großen Städten bekannt war.

Kurzfristige Aktionen können und werden hier nichts bewirken. Gefordert sind zum Teil neue und auf Langfristigkeit ausgerichtete gesellschaftliche Antworten. Das ist eine der großen Aufgaben der Politik der kommenden Jahre.

Meine Damen und Herren, im engen Zusammenhang damit steht eine wesentlich effizientere Verwaltung. Der Bürokratieabbau hat drei Zielgruppen: die Wirtschaft, die Bürger und die Verwaltung selbst. Ziel aller Bemühungen müssen eine geringere Bürokratiekostenbelastung sein, verständlichere Regelungen und Rahmenregelungen, die die private Initiative fördern und nicht einengen oder behindern.

Lassen Sie mich noch einige Worte zum Thema "Sozialstaat" sagen. Bei aller Notwendigkeit von Reformen, bei aller Notwendigkeit von Umbau ist sein grundsätzlicher Erhalt die Voraussetzung der weiteren Entwicklung in Deutschland. Dabei geht es zunächst um die Einsicht, dass wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit Hand in Hand gehen müssen. Interessiert beobachten viele dabei die skandinavischen Staaten und deren zum Teil beachtliche Erfolge auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Dort arbeitet man schon seit vielen Jahren nach der Devise, dass sich sozialer Zusammenhalt und ökonomischer Erfolg wechselseitig bedingen und verstärken. Letztlich ist dies das Geheimnis ihres Erfolges.

Zugleich zeigen uns die Skandinavier eindrucksvoll, dass Gesellschaften heute wirtschaftlich vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie erstklassige Bildungschancen für möglichst alle Menschen bieten und diese mit ebenso guten Bedingungen für die Familien verbinden. Dynamisches Wirtschaften und sozialer Schutz, gute Bildungs- und Lebenschancen für möglichst viele Menschen - das alles ist nach meiner festen Überzeugung unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts immer nur miteinander zu haben, niemals gegeneinander.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass die Rolle des Bundesrates bei der Debatte und Umsetzung grundlegender politischer Entscheidungen von wesentlicher Bedeutung bleibt. Deshalb wünsche ich uns allen einen klaren Blick dafür, dass Deutschland im Inneren stabil, leistungsfähig und gerecht, nach außen ein zuverlässiger Partner und Verbündeter bleibt. Die Bundesländer müssen in diesem Konzert nicht die erste Geige spielen, sie könnten zuweilen aber mehrmals den Ton angeben.

Ich bedanke mich bei allen, die in dieser Bundesratsperiode vertrauensvoll mit mir zusammengearbeitet haben, und wünsche meinem Nachfolger alles Gute. - Herzlichen Dank.

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