19.12.2003

des Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen, Dieter Althaus, zu Ehren der Sinti und Roma, am Freitag, 19. Dezember 2003, in Berlin Ansprache

Es gilt das gesprochene Wort!

Achtung: Sperrfrist beachten!

19. Dezember 2003, Redebeginn

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Der Bundesrat gedenkt heute der Opfer des Genozids an den Sinti und Roma.

Unter unseren Gästen sind Überlebende des Völkermords, Angehörige und Nachkommen der Opfer sowie Mitglieder von Vertreterorganisationen der Sinti und Roma. Ich grüße Sie und danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.

Ihre Anwesenheit verleiht der Gedenkveranstaltung des Bundesrats eine besondere Bedeutung: Vereint wollen wir der Toten des Völkermords gedenken, vereint wollen wir an das unsägliche Leid erinnern, das nationalsozialistischer Rassenwahn über hunderttausende deutsche und europäische Sinti und Roma gebracht hat.

Es ist ein Leid, das fortlebt: Die seelischen und körperlichen Qualen der Überlebenden sind nicht überwunden. Noch immer sind die Lücken, die Verfolgung und Tod hinterlassen haben, schmerzlich: Nahezu jede Familie unter den deutschen Sinti und Roma hat während des Völkermords Angehörige verloren.

Die Geschichte jener Jahre ist nicht vorüber. Man kann und darf sie nicht beiseite schieben. Deshalb gehört der 16. Dezember 1942 in das öffentliche Bewusstsein der Deutschen und Europäer.

An diesem Tag unterzeichnete Heinrich Himmler den so genannten "Auschwitz-Erlass". Fast 23.000 Sinti und Roma aus mehreren europäischen Ländern - unter ihnen 13.000 aus Deutschland und Österreich - wurden daraufhin in ein eigenes elendes Barackenlager in Auschwitz-Birkenau verschleppt.

Zum Zeitpunkt der Einweisung war der jüngste Häftling ein Säugling von einem Monat, der älteste eine einhundertzehnjährige Frau. Ein Zeichen für die Gnadenlosigkeit und Menschenverachtung der Nationalsozialisten.

Siebzehn Monate existierte das Lager. Die Bilanz könnte bedrückender nicht ausfallen: Weit über 13.600 Menschen starben an Unterernährung, Krankheiten und Seuchen; mehr als 5.600 Menschen wurden im Gas erstickt.

Nur diejenigen, die im Sommer 1944 noch arbeitsfähig waren, überstanden Auschwitz-Birkenau. Sie wurden in andere Lager verbracht. Längst nicht alle von ihnen erlebten das Ende der NS-Diktatur.

Der "Auschwitz-Erlass" Himmlers vom 16. Dezember 1942 markiert den schrecklichen Höhepunkt nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, aber nicht seinen Beginn. Schon zuvor waren zehntausende Sinti und Roma der Verfolgung zum Opfer gefallen.

In der Sowjetunion, im Baltikum und im so genannten "Generalgouvernement" waren die Massenerschießungen durch SS-Einsatzgruppen und durch die Sicherheits- und Ordnungspolizei längst im Gange. In Serbien hatte die Wehrmacht zahlreiche Roma bei so genannten "Vergeltungsexekutionen" ermordet. Im Ghetto von Lódz starben um die Jahreswende 1941/1942 mehrere tausend Menschen an Flecktyphus oder wurden in Kulmhof mit Gas getötet.

Innerhalb des Reichsgebiets nahm das Konzentrationslager Buchenwald in Thüringen einen zentralen Platz unter den Stätten der Verfolgung ein. Bereits mit den ersten Transporten 1937 kamen einzelne Sinti ins Lager. Bis zur Befreiung durch amerikanische Truppen 1945 hatten hier tausende Sinti und Roma gelitten.

"Ich glaube, wir Zigeuner müssen alle in Buchenwald sterben." Bereits einem zwölfjährigen Häftlingsjungen war alle Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft genommen.

Auch in Buchenwald waren die Sinti und Roma besonderen Demütigungen ausgesetzt, wurden sie zu verbrecherischen medizinischen Experimenten missbraucht, und gingen am täglichen Drill, der Zwangsarbeit und an Hunger und Kälte zugrunde.

Die genaue Zahl der Todesopfer lässt sich kaum mehr ermitteln. Dennoch steht außer Frage: Buchenwald ist ein Ort des planmäßigen Mordens an den Sinti und Roma.

Der Völkermord an den Sinti und Roma geschah nicht nebenbei oder zufällig. So genannte Rassengutachten gaben den Ausschlag für die Deportation in die Konzentrationslager, für Zwangssterilisationen und Abtreibungen. Das Tötungsprogramm, dem die Sinti und Roma zum Opfer fielen, wurzelte in den rassistischen und rassehygienischen Wahnvorstellungen der NS-Ideologie.

Nach 1945 war der nationalsozialistische Massenmord an den Sinti und Roma über Jahrzehnte - wie Michail Krausnick treffend formuliert hat - ein "unterschlagener Völkermord".

Legitime Ansprüche wurden den Opfern verweigert. Die Überlebenden mussten sich selbst Recht verschaffen. Im Westen wie im Osten Deutschlands fand die Geschichte des Völkermords sehr lange Zeit kaum Beachtung.

Die Erinnerung an das Leiden der Sinti und Roma ist nicht der Vergessenheit anheim gefallen - vor allem auch deshalb, weil Überlebende und ihre Vertreterorganisationen das Wissen um die grauenvollen Geschehnisse überliefert haben. Aber es besteht weiterhin dringender Aufklärungsbedarf.

Immer noch gilt es deutlich zu machen: Die Erinnerung an das Schicksal der Sinti und Roma im Nationalsozialismus hat ihre eigene Berechtigung, und das Gedenken an ihre Toten und Geschundenen besitzt seine eigene Würde. Es ist von keiner anderen Verfolgtengruppe geborgt oder abgeleitet.

Der Völkermord an den Sinti und Roma stellt ein historisches Faktum von unabhängiger Relevanz dar, das nicht übersehen oder verleugnet werden darf, und mit dessen Ursachen und Folgen wir uns auch künftig auseinandersetzen müssen.

Deshalb gibt es seit 1994 die Gedenkfeier hier im Bundesrat. Deshalb ist 1995 auf dem Gelände des KZ Buchenwald das erste Denkmal zu Ehren der verfolgten und ermordeten Sinti und Roma errichtet worden.

Ich hoffe sehr, dass das zentrale Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hier in Berlin bald verwirklicht werden kann. Ein Bauplatz und ein Entwurf sind vorhanden. So wichtig die Auseinandersetzung und auch der Streit über die Form und die Inhalte des Erinnerns sind, das Projekt sollte jetzt nicht an einer Einigung über die Inschrift scheitern!

Das Mahnmal in Berlin ist ein weiterer wichtiger Schritt, damit das Verfolgtenschicksal der Sinti und Roma die notwendige, öffentliche Anerkennung und Beachtung findet. Es ist - soweit so etwas überhaupt möglich sein sollte - ein Stück überfälliger historischer Gerechtigkeit. Ein Zeichen dafür, dass wir nicht vergessen wollen, ist es in jedem Fall.

Wir brauchen solche Orte und Daten des Gedenkens,

  • damit wir aus der Geschichte Lehren ziehen
  • damit wir der jungen Generation verständlich machen, dass das Gedenken nichts mit der Weitergabe von Schuld zu tun hat,
  • sondern verhindern soll, dass sich die Geschichte wiederholt.

Im Sommer 1932 - also noch vor der so genannten Machtergreifung - schrieb Alfred Rosenberg einen Satz, der die Verhöhnung aller rechtsstaatlicher Grundsätze und die ganze Menschenverachtung der Nationalsozialisten erkennbar werden ließ: "Recht ist nicht gleich Recht, Mensch ist nicht gleich Mensch". Später - auf den Appellplätzen der Konzentrationslager - hieß das Schreckenswort "Selektion".

Die Einteilung der Menschen nach scheinbar wissenschaftlichen Kriterien war der Ursprung der nationalsozialistischen Barbarei. Wir schulden es den Opfern, wir schulden es aber auch der Zukunft unserer Kinder, immer wieder deutlich zu machen: Menschsein darf nicht von der Herkunft, von der Hautfarbe, von der Leistungsfähigkeit oder Gesundheit, vom Glauben oder der politischen Überzeugung abhängig gemacht werden. Nie wieder dürfen wir eine Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zulassen.

Die Lehre, die wir aus Auschwitz-Birkenau, aus Buchenwald und den zahllosen anderen Orten der Verfolgung und Vernichtung ziehen, heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Wir müssen alles tun, damit es dabei bleibt!

Artikel 1 des Grundgesetzes enthält das Bekenntnis zur Unveräußerlichkeit der Menschenwürde, Artikel 3 garantiert allen Menschen einen gleichwertigen Grundrechtsschutz und verbietet jegliche Form der Diskriminierung und Ausgrenzung.

Wir wissen alle, dass zwischen Verfassung und Wirklichkeit noch Lücken zu schließen sind. Die Vorgaben des Grundgesetzes bedürfen ständig neuer Ausgestaltung. Die deutschen wie die europäischen Institutionen müssen sich weiterhin mit aller Entschiedenheit gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und selbstverständlich auch gegen Tendenzen, die sich gegen Sinti und Roma richten, engagieren.

Geduldige Aufklärung ist auch künftig notwendig - gelegentlich aber auch klare Worte und eindeutige Abgrenzung! Wo rechtsstaatliche Normen verletzt sind, müssen Polizei und Justiz konsequent handeln!

Die deutschen Sinti und Roma besitzen den Status einer nationalen Minderheit. Das beinhaltet nicht allein die Anerkennung der kulturellen Identität, sondern schließt nach dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats auch die Verpflichtung ein, "geeignete Bedingungen" zu schaffen, "die es ... ermöglichen, die Identität zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und zu entwickeln."

Zu diesen Bedingungen gehört zum Beispiel, dass die Politik den Forderungen der Sinti und Roma und ihrer Vertreterorganisationen Beachtung schenkt. Und - selbst wenn das im Grunde eine Selbstverständlichkeit sein sollte - immer wieder deutlich zu machen: Die Sinti und Roma gehören zu uns. Sie sind ein integraler Bestandteil unserer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft. Ihre Kultur ist eine Bereicherung für dieses Land.

Die Sinti und Roma haben selbst am meisten daran mitgewirkt, Vorurteile und Verallgemeinerungen als irreführende Fiktionen zu entlarven, den kulturellen Beitrag der Sinti und Roma in Geschichte und Gegenwart herauszustellen. Ich bitte Sie, dieses Engagement fortzusetzen. Unsere Unterstützung haben Sie.

Es ist den Sinti und Roma gelungen, Trauerarbeit in Versöhnungsarbeit umzusetzen. "Nicht anklagen, sondern erinnern!", davon haben sich Menschen wie die Auschwitz-Überlebende Philomena Franz leiten lassen.

Versöhnung kann es nur geben, wenn wir uns erinnern und gemeinsam über das trauern, was geschehen ist:

Wir gedenken heute des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma. Wir gedenken ihrer ermordeten Frauen, Männer und Kinder. Wir gedenken der Frauen, Männer und Kinder, die zum Opfer von Ausgrenzung, Verfolgung und Misshandlung geworden sind. Wir gedenken der Menschen, die bis heute unter den Folgen des Völkermords leiden.

Das Gedenken gibt Orientierung für die Zukunft. Es ist eine Erinnerung an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit der Menschenwürde.

Bitte erheben Sie sich in ehrendem Gedenken von Ihren Plätzen!

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